VÖLKER HÖRT DIE SIGNALE...
Russlands Musikszene zwischen Kalinka und Links im Web

Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine Gruppe von fünf russischen Komponisten, zu denen u.a. Mussorgski gehörte, als erste eine eigenständige nationale Musikrichtung zu entwickeln, die sich insbesondere von der von westeuropäischer Klassik beeinflussten Musik Tschaikowskis absetzte. Diese Gruppe hatte den Beinamen des "mächtigen Häufleins". Mehr als ein Häuflein osteuropäischer, Popular-Musiker ist heute dem westlichen Konsumenten wohl kaum bekannt. Doch dieses Häuflein ist mächtig im Kommen. Hans-Jürgen Lenhart sichtete, was sich zwischen Polen und Süd-Sibirien, St. Petersburg und Budapest an einer neuen nationalen Identität entwickelt hat, die die Vorstellungen über populäre Musik in Russland sprengt.

Angeblich treten manchmal hochkarätige russische Musikstars in bekannten Hallen größerer deutscher Städte auf, ohne dass unsereins davon Notiz nimmt. Gut organisierte russische Gemeinden versorgen sich dabei mit dem, was sie aus der Heimat her kennen und schätzen; man geht wohl davon aus, dass dies Deutsche eh kein bisschen interessieren würde, plakatiert kaum und bleibt innerhalb der eigenen Informationskanäle. Ein Beispiel, dass offenbar Kulturen größerer Länder innerhalb Europas nebeneinander her leben, ohne viel in einem der kommunikativsten Bereiche, der Unterhaltungsmusik, groß voneinander Notiz zu nehmen. Nur selten gelangen Informationen und Vertreter der U-Musik, wenn es sich nicht gerade um Matrosenchöre handelt, zum deutschen Publikum, und wenn, dann bleibt der Eindruck exotischer Einzelbeispiele. Man hat den Eindruck, der Eiserne Vorhang muss diesbezüglich wohl noch bestehen. Osteuropäische Gruppen verirren sich oft schon aufgrund haarsträubender und von beiden Seiten am Laufen gehaltener bürokratischer Hürden nicht so leicht in unsere Clubs, gleichzeitig reicht das Interesse westlich sozialisierter Konsumenten kaum aus, sich vorstellen zu können, dass das riesige Gebiet Osteuropas im Grunde durch geografische Nähe und politisches Zusammenrücken mit seiner Unterhaltungskultur starke Inspirationen in der westeuropäischen U-Musik hervorrufen könnte. Tatsächlich wurde mancher Band bereits wegweisendes Potential attestiert und eine Homepage im Web dürften die meistens Acts inzwischen auch haben. Gewiss gibt es Festivals und Tourneen mit z. B. russischen Musikern, doch dann fällt sofort auf, dass stilistische Begriffe westlicher Prägung nicht so einfach zu übertragen sind. Besonders in dem Moment, wo osteuropäische Acts weder eindeutig Folklore bieten noch westliche Stile kopieren wollen, beginnt eine seit Perestroika zunehmende eigene Identität, die zwar das Instrumentarium von Rock, Techno, Folk oder Jazz nutzt, mit Begriffen aber nur schwer zu erfassen ist. Das "Everything goes!" ist vielleicht noch das Auffälligste, was diesen Formationen gemeinsam zu sein scheint. Damit liegen sie sogar unbewusst im weltweiten Trend sich globalisierender nationaler Musikszenen.

Vom Livingroom zum Ballroom

Wo sich in Osteuropa eine national eigenständige, zeitgemäße Musikszene gebildet hat, so ist deren Bedeutung aus der jüngeren politischen Geschichte des Ostens heraus zu verstehen. Einflussgebende Formationen stammen zumeist aus der inoffiziellen Szene vor Perestroika, was ihnen häufig einen gewissen Avantgarde-Nimbus verleiht.
Derartige Bands der inoffiziellen Szene gewannen nach Perestroika insbesondere in Russland infolge der Zerschlagung der staatlichen Monopolplattenfirmen durchschlagende Bedeutung bei Fans und Kritikern. St. Petersburger Gruppen wie Åkvarium um den Sänger Boris Grebenshikov oder das avantgardistische Rocktheater Auktyon um den Sänger Leonid Fjodorov bestimmten mit ihrem Gestus seitdem die Szene, wobei in den letzten Jahren eine neue Generation wiederum nach eigenen Ausdrucksformen z. B. in der elektronischen Musik sucht. Boris Grebenshikov, der hier keinesfalls unerwähnt bleiben darf, weil er einer der wichtigsten Pioniere für eine Öffnung der russischen Musik zum Weltmarkt und gleichzeitig der Suche russischer Musiker nach vom Westen unabhängiger Musik ist, ist die vielleicht einzige weltweit bekannte Kultfigur der russischen Rockszene und seine Entwicklung ist symptomatisch für den Emanzipationsprozess der gesamten Undergroundmusikszene Russlands. Sein Weg führte von den heimlichen Konzerten in Wohnzimmern auf die großen Bühnen der Welt. Obwohl Grebenshikov mehr ein Mann der Suche nach persönlicher, spiritueller Erfüllung in Abgrenzung zum kapitalistischen Materialismus war und weniger das Sowjetsystem grundsätzlich bekämpfte, erfüllte er in etwa die Funktion einer Leitfigur zu alternativen Lebensweisen in der jugendlichen Subkultur wie John Lennon im Westen. Die russischen Fans dankten es ihm überschwänglich, als er sich 1986 bei einem Konzert, das seine Band Åkvarium zusammen mit Mitgliedern von UB40 gab, solange weigerte zu spielen, bis die Sicherheitskräfte Fans zurückbrachten, die vorher wegen "zu wilden Tanzens" abgeführt worden waren. Als Urtyp des unterdrückten Rockpoeten, der am Existenzminimum lebte, um seine als systemfeindlich eingestufte Musik entwickeln zu können, traf er mit seiner sich ausdrücklich auf westliche Stile beziehenden Musik und seinen dylanesken Texten den Nerv einer immer mehr die Widersprüche des kommunistischen Systems erfahrenden Jugend, die gleichzeitig die Musik des Westens aber auch ideologisch überhöht ansah. Grebenshikovs Musik hat zwei Seiten, einerseits wirken seine Hauptwerke für einen Rockrebel eigentlich zu balladesk und man könnte sich gut deutsche Fassungen seiner Lieder durch Herman van Veen vorstellen. Andererseits elektrifizierte er sich mit Åkvarium seit den 80ern zusehends und nahm über Rock und Singer/Songwritertum hinausgehende Elemente wie Reggae oder Musette in die Musik mit auf.

Ausgegrenzte mit grenzenloser Musik

Auktyon, vielleicht die bekannteste Indieband der St. Petersburg-Szene, ist eine Art Rocktheater mit einem Sänger, dem eher der Klezmer als der Rock'n'Roll innewohnt und der durchaus auch an die Expressivität energievoller französischer Chansonniers á la Gilbert Becaud erinnert. Andererseits spielen die Musiker immer wieder in anderen Projekten mit, wo sie auf z. B. Jazzmusiker oder Streicher stoßen, und dabei eigenwillige Arrangements entfalten, die mit Rockbusiness wenig zu tun haben und eher die typisch russische Melange unterschiedlichster musikalischer Ansätze vermittelt. Scheinbar entwickelte sich bei den politisch ausgegrenzten Musiker im alten System noch am ehesten aus Not, Toleranz, Solidarität und Interesse heraus eine grenzenlose, musikalisch überstilistische Musik, die die Musiker auch flexibel für alle denkbaren Begegnungen macht.

Eine dieser eigenwilligen Begegnungen von Auktyon fand auf der vorzüglichen Musikkassette Tscheini Vinar mit dem Sänger Alexej "Khvost" Khvostjenko statt. Dieser russische Exil-Poet, Maler und Musiker ist ein recht exaltierter Sänger, der mit dadaistisch klingender Wortwahl sehr rhythmisch singt und damit manchmal sogar an die Scatimprovisationen des brasilianischen Stimmvirtuosen Joao Bosco erinnert. Er hechelt sich durch holperige Rhythmen, manchmal setzt er auch bewusst aber gekonnt auf das Klischee "raue russische Kehle". An anderer Stelle pflegt er wieder einen rezitativen Sprechgesang, da werden die Rhythmen von der Band mitgesungen, eine Eigenart, die auch schon bei der estnisch-russischen Band Ne Zhdali auffällt, deren Musik der Produktion von Khvost & Auktyon so unähnlich letztlich nicht ist. Die Musik schillert zwischen Folkballaden und Artrock, wird an vielen Stellen mit Jazz verblendet und lässt eine Ahnung zu, wo es hinter einem Tom Waits weitergehen könnte. Die unkonventionellen bis sperrigen Arrangements sind voller derart abwechslungsreicher Ideen, dass es mühselig ist, diese Musik in irgendwelche Vergleichsschubladen westlicher Prägung quetschen zu wollen; eher sollte man ihr einen neuen Namen geben. Da endet z. B. eine von einer Trompete umspielte Ballade mit Sitarklängen, andere Stücke sind durchwoben von Clustern auf dem Dulcimer oder einer Art Steelguitar. Im Hintergrund taucht mal eine durchs Megaphon singende Stimme auf, der Bass wird geklopft statt gezupft, der Gitarrist singt unisono die Melodie dazu. Khvostjenko ist zusätzlich ein Beispiel für die französische Sphäre der russischen Gruppen. Der von seinen Kollegen kurz "Schwanz" ("Khvost") genannte Musikpionier lebt seit langem in Paris und betreibt dort einen Musikclub in der Subkultur.

Was bei Auktyon und bei vielen Bands, die weniger dem Rockbereich zuzuordnen sind als diese, ebenfalls auffällig ist, ist die Verbreitung wesentlich anderer Rhythmen bei Uptempo-Stücken. Das erinnert einerseits in seiner zackigen und von rollenden Snaredrums getriebenen Art manchmal an Polka-Punk, insgesamt sind die Rhythmen aber verspielter und weniger geradliniger als im westlichen Pop und Rock. Bands wie Auktyon vermitteln mit ihrer Wildheit, ihrem oftmals rotzigen Umgang mit den musikalischen Traditionen und unkonventionellen Shows irgendwie an im Westen längst begrabene Aufbruchsstimmungen z. B. der New Wave-Zeit. Auktyon bestechen z. B. durch Bodybuilder, ekstatische Bühnentänze und karnevalistische Kostümierung und die estnisch-russische Band Ne Zhdali trat in früheren Jahren mit einem riesigen Glockenspiel auf, zog weibliche Folklorekostüme an und ersetzte das Schlagzeug durch einen Stuhl.

Das Exaltierte und ein fast schon absurdes Konglomerat sind letztlich auch die besondere Qualität der Innovatoren in der russischen Musikszene. Hier spielt insbesondere die Szene von St. Petersburg eine tragende Rolle, die ihre Rolle als Heimat der russischen Avantgarde mit Namen wie Majakowski, Chlebnikow und Kandinsky auch weiterhin gerecht wird. Da ist die unbestrittene Kultfigur der St. Petersburger Musikwelt, Sergej Kuriochin. Zwei Beispiele sollen belegen, wie ausufernd die kreative Kraft dieses 1996 leider früh verstorbenen Musikers war. Sein 1993 eingespieltes "Spatzen Oratorium" ist eine ständig sich verwandelnde Verwebung von entrücktem Operngesang, Popmusik, exzentrischen Jazzimprovisationen, minimalistischen Sequenzerrhythmen, folkloristischen Fiddlerklängen, avantgardistischen Soundscapes und psychedelischen Studioeffekten. Live ließ Kuriochin einmal zeitgleich (sic!) ein Kammerorchester, eine Rockband und ein Folkloreensemble spielen. Aus dem Orchestergraben marschierten plötzlich Soldaten in Tarnuniform, von der Decke her erschallte ein himmlischer Chor, eine Kuh wurde durchs Publikum geführt, die ihre Folklore durchs Mikro schickte, zwischen Estradensängern (= slawistischer Schlager) liefen meckernde Ziegen umher, während Kuriochin wie ein klassischer Dirigent sich am Pult abtobte. Prinzipiell wiederholte er nie etwas. Kuriochin war eine Art Monty Python der U-Musik, eine Mischung aus interdisziplinärem Künstler á la André Heller und groucho-marxistischer Anarchie. So bewies er einst in einem Fernsehvortrag mit hinreißendem Erfolg, dass Lenin nichts anderes als eine Pilzform war!!! Seine Art der dadaistischen und augenzwinkernden musikalischen Performance bezeichneten die Fans als "Populäre Mechanik". Als Mitglied beeinflusste er wiederum auch die wichtigsten Aufnahmen der russischen Kultband Åkvarium; von Haus aus war er ein virtuoser Jazzpianist.

Ein ähnlich verunsicherndes Konzept wie Kuriochin hat auch die aus Tallin in Estland stammende, aber russischsprachige Band Ne Zhdali. An ihr führt insofern kein Weg vorbei, wie diese Band bzw. ihr Mastermind Leonid Soybelman und sein zweites Projekt Kletka Red inzwischen eine einflussreiche Rolle in der experimentellen Jazzszene Europas spielen. Die mehr als ausgeflippten Ne Zhdali vereinen mühelos das Spektrum zwischen slawischen Hochzeitsblaskapellen, Soundscapes, Jazzsinfonie, Speedmetal, Noise, russischer Folklore und Free Jazz.

Elektro-Szene - Die nächste Generation

Inzwischen gibt es natürlich längst eine Generation von Musikern, die nicht unter der Atmosphäre von Underground und Oppression aufgewachsen ist und eine eigene Identität sucht, die sich von den Pionieren absetzt. Die russische Musikszene ist nicht gerade mit Clubs übersät und die enormen Distanzen verführen auch nicht groß dazu, sich auf Tourneen zu begeben. Durch die Inflation werden Einnahmen von Konzerten eher zu Trinkgeldern, die meisten Musiker der Rockszene z. B. gehen anderen Berufen nach. Elektro-Musiker dagegen leben vom Musizieren schon eher allein dadurch, dass sie durchaus auch für Werbeclips komponieren. Die Technoclubs mit Material zu beliefern und im Homerecording statt im Übungsraum sich zu verwirklichen, ist oft ein direkterer Weg des Musikerdaseins. Die Elektronikszene hat in Russland inzwischen eine große Bedeutung gewonnen. Dies ist nicht nur eine Folge der Dominanz von elektronischer und Club-Musik im Westen, sondern auch ein logisches Mittel für russische Musiker, mit den schwierigen ökonomischen und organisatorischen Bedingungen ihres Musikmarktes umzugehen. Allerdings wirkt die Elektro-Szene bei der Suche nach einem speziell russischen Typus nicht ganz so eigenständig wie der Bereich der erwähnten Gruppen, die im Bereich von Rock, Jazz, Folk und Avantgarde operieren. Was den Musikern aus Gründen des Equipments manchmal vielleicht nicht möglich ist, die studiotechnischen Raffinessen an Effekt-Tools usw. der westlichen Kollegen auszuloten, wird oft mit einer Prise Humor und stilistischer Vielfalt wett gemacht. Insgesamt wird das melodische Element noch wichtiger genommen, gleichzeitig aber weniger aufs Tempo gedrückt. Ambient und Industrial Music als Einfluss elektronischer Tanzmusik, aber auch im Wechsel mit rhythmischen Tracks spielen eine deutlichere Rolle als im Westen. So wird ungewollt der Eindruck einer melancholischeren Stimmung des Ostens bestätigt. Ein gutes Beispiel dafür sind die Pioniere der Elektro-Szene, Novi Kompositori aus St. Petersburg, die ihren Techno früher mit Samples aus patriotischen Filmen versetzten. Bedrohlich-mystische Soundscapes wechseln sich auf ihrer Kassette "Astra" mit Elektropopmelodien ab, die mit Gekichere oder Wassergeräuschen versetzt sind. Es ist die Sehnsucht nach dem Finden logischer Signale beim Lauschen in das kosmische Rauschen oder die Faszination der ersten Radiopioniere, die hier zitiert wird. Der atmosphärische Unterschied in der Ästhetik von Science Fiction-Filmen zwischen Andrej Tarkovskijs "Solaris"-Verfilmung und dem spektakelhaften Getöse der Star Wars-Filme wird hier bewusst und musikalisch hörbar gemacht. So verwundert nicht, dass Bandmitglied Valerij Alakhov inzwischen zum Dunstkreis Brian Enos gehört, auch bei Pete Namlook veröffentlicht hat und auch als DJ in den Clubs von Manchester zu bewundern ist. Viele der Acts arbeiten also auch international, was bei einer textunabhängigen Musik wohl auch leichter fällt. Was fehlt, ist der Entschluss internationaler Musikstars, sich auch einmal von Russen remixen zu lassen, um die russische Szene in die internationale zu integrieren, was nebenbei vielleicht sogar ein finanzielles Schnäppchen sein könnte. Am interessantesten erscheinen aber noch die Formationen, die mit einem Gefühl für Witzigkeit ans Mischpult gehen, wie Oleg Kostrov, der Trashpop der 50er und das Geträllere der Exotica-Legende Yma Sumac zu einer Art russischen Latintechno zusammensampelt oder Mo Fun, der Riffs aus Swingnummern mit Jungle versetzt.

Put Putin in - Wandel in den infrastrukturellen Momenten der Szene

Eine gute Übersicht zur Elektroszene vermitteln die Kompilationen Tell Tschaikowsky the News (zur Szene in Moskau und Königsberg) oder insbesondere Elektrus vom Label What's so funny about ab, die der Hamburger Christoph Karsten konzipiert hat. Dieser betreibt das Label MOST RECORDS, welches gleichzeitig ein Mailordervertrieb ist, unter dem viele der hier vorgestellten Alben zu haben sind. Genreübergreifend hat er etwa 100 verschiedene Titel im Angebot, die je nach Reisen nach Russland aktualisiert werden. Gleichzeitig betreibt Karsten einen Musikverlag, mit dem er dafür sorgt, dass die Verwertungsrechte russischer Bands wie Auktyon im Westen gewahrt werden. Wer eigenständige russische Musik kennen lernen will, muss dabei aber auch auf das Anhören von Musikkassetten zurückgreifen. Dieser Tonträger ist immer noch der meistverbreitetste in Russland. Seit etwa Putins Machtergreifung schieben die Russen zunehmend CDs in einen Player, jedoch gilt hier eine Auflage von 30.000 schon als Spitzenwert. Das gleiche Album liegt dann auf Kassette dagegen meist um die 150.000 Stück vor. Etwa seit der gleichen Zeit existiert in Russland auch MTV und einige Musiker erhoffen sich, dass mit einer nationalen Show dort auch ein lukratives Forum für russische Bands geschaffen wird. Große Aufnahmestudios gibt es einige wenige. Erstaunlicherweise sind die Preisvorteile für westliche Musiker bezüglich der Studiomiete von diesen noch nicht entdeckt worden.

Musikalische Zentren in Russland

Die russische U-Musikszene konzentriert sich neben der südsibirischen Provinz Tuva auf wenige Großstädte, allen voran St. Petersburg, daneben noch die im Ural gelegene Industriestadt Jekaterinburg und natürlich Moskau. Boris Bardosh von der noch zu beschreibenden Gruppe Ole Lukkoye meint dazu, dass es gerade in der Hauptstadt sehr schwierig sei, mit eigenständiger Musik voranzukommen.

"Es gibt kaum Gesetze und Managementrichtlinien. Wenn wir in Moskau in einem angesehenen Club spielen, dann kriegen wir oft nur eine Kiste Bier dafür." Und Andrej Lavrinenko, der Bassist der Band, ergänzt: "Viele Bands von außerhalb werden aus den Clubs ausgeschlossen. Da gibt es regelrechte Mafiamethoden. Durch diese Gauner kriegst du dann nur Popmusik geboten, Mafiamusik! Die Label- und Clubszene steckt erst in den Kinderschuhen. Wenn eine Band erfolgreich touren kann, dann steckt eine Menge Sponsorengeld reicher Privatleute dahinter."

St. Petersburgs beherbergt dagegen noch am ehesten die Jazz- und Avantgardeszene in Russland, für die sich generell der schlichte Begriff "Andere Musik" eingebürgert hat. Dies beinhaltet eher ein Denken im Sinne von Improvisation, Polystilistik, Klangexperimente. Die lebt auch von selbstgebauten Instrumenten z. B. aus Blech, Federn und Saiten der hierzulande durchaus bekannten Formation ZGA. Von harschen Noise-Sounds bis Electronic Body Music oder Ambient gehend verwischt sich auch hier eine eindeutige Zuordnung dieser düsteren Band aus dem Umfeld der "Galerie für experimentelle Musik - GES 21". Überhaupt haben die Szenen der experimentellen bzw. elektronischen Musik und der bildenden Kunst eine symbiotische Verbindung. Multimediale Konzerte sind durchaus nichts Ungewöhnliches. So übertrifft die Videolightshow der Ethno Trance-Band Ole Lukkoye mit Sicherheit vieles an Legende gewordener Flower Power-Stage-Action. Zur Anderen Musik zählt z. B. auch der Kontrabassist Wladimir Wolkow, der mit seinem Trio Musik zwischen Free Jazz, Rock und Folklore betreibt und daher in der Lage war, mit den eher rockigen Auktyon zusammen zu spielen und auch schon international eine anerkannte Größe ist. Hier zeigt sich wieder, dass das Zusammenspiel über Genres und Gruppenkonzepte hinaus sehr verbreitet ist. So spielt wiederum der Saxophonist von Auktyon, Nikolai Rubanow, bei der eher jazzigen Formation Sojus Kommertschetskogo Awantgarda (S.K.A.), was soviel heißt wie "Verband der Kommerziellen Avantgarde". Da man auch hier den Begriff Jazz nur eingeschränkt verwenden sollte, wäre es richtiger, S.K.A. als eine Art Brassband zu sehen, die über dem energievollen Drive von Punk knarzig-lärmige Bläserausbrüche inszeniert und mit funkigen bis psychedelischen Gitarrenparts kreuzt. S.K.A. machen live den Schwerpunkt ihrer Musik von den Auftrittsorten abhängig, wobei es einerseits sogar tanzbar werden kann, es andererseits aber auch zu schrägen Geräuschexperimenten kommen kann. Von westlichen Musikern des Popbereiches hört man es eher selten, dass sie über ihre eigenen Fraktionen hinaus engagiert sind. In Russland scheint dies fast schon ein eher typisches Element zu sein. Henning Kuepper vom Vertrieb Lollipopshop erklärt dies am Beispiel der in Russland überproportional in Gruppen vorhandenen Blechbläser.

"Von jeher sind Musiker in Russland eigentlich gut ausgebildet. Durch die wirtschaftliche Situation gibt es aber einen großen Markt an ausgebildeten Musikern in Russland, die auf Arbeitssuche sind. Diese haben nicht unbedingt große Ressentiments, wo sie spielen. Sie müssen sich zu flexiblen Alleskönnern entwickeln, die unter den denkbar verschiedensten Bedingungen spielen können. Daher ‚verirren' sich viele in Formationen, die nicht unbedingt ihrer angestammten Musik entsprechen, bringen aber dort ihren Einfluss ein, so u.U. Bläser aus Jazz, Klassik oder woher auch immer in z. B. Rockgruppen. Insgesamt ergibt sich die Situation, dass in relativ vielen Fällen Musiker unterschiedlichster Richtungen zusammengeraten und auch gut miteinander auskommen. Das wirkt sich natürlich auf den Sound und das Konzept vieler Gruppen aus."

Schamanen des 21. Jahrhunderts - Die Psychedelic Ethno Szene

Die Kehlkopfgesänge Tuvas spielen auch in der St. Petersburger Gruppe Ole Lukkoye eine Rolle. Die Gruppe feierte inzwischen beeindruckende Erfolge auf deutschen Festivals und ihre letzte CD Crystal Crow-Bar wurde vom Mastermind der Krautrocklegende Faust, Hans-Joachim Irmler, produziert. Dies geschah wohl nicht von ungefähr. Ole Lukkoyes Musik weist einerseits Bezüge zu psychedelischer Musik der 70er Jahre auf, setzt dabei jedoch auf unverbrauchtere Arrangements. Die Rockelemente werden gleichrangig mit elektronischen Rhythmen und akustischer Perkussion kombiniert, die eine sehr hypnotische Atmosphäre erzeugen. Orientalische Melodiephrasen, ein meist auf Phantasiesprache und ein wenig an die Samin Mari Boine erinnernde Sängerin, dazu ein zu schrillen Tönen missbrauchtes Fagott und immer wieder Samples von Didgeridoos oder sibirischem Kehlkopfgesang prägen diesen östlichen Trance. Die elektronischen Beats wollen nicht wie bei westlichen Gruppen vermitteln, dass sie bei den angesagten Zeitgeistrhythmen mithalten können, sie verstehen sich eher als eine Art schamanistische Folklore mit den Mitteln der Programmierbarkeit. Die Band versteht ihren Trance gar als Vermittlung eines Weges spiritueller Erfahrungen. Doch die Rhythmik alleine würde nicht genügen, sich von rein computergenerierter Musik wie Tribal Techno abzusetzen. Es ist die Gleichrangigkeit der Rhythmik mit dem Klang des ebenso eingesetzten folkloristischen Instrumentariums wie z. B. dem eines stark verhallten Banjos, das im Stil einer arabischen Oud gespielt wird. Es ist ebenso die Integration vielfältiger stilistischer Einflüsse, sei es der schwerblütige Gothic-Touch im Gesang von Gründungsmitglied Boris Bardash oder die voluminösen Klangwände von Spacerock. Im Westen wird die Band daher zwischen Art Rock-, World Music-, Psychedelic- und Club Music-Liebhabern gleichermaßen als zuständig vereinnahmt. Dass Gründungsmitglied Boris Bardash aber eindeutige Zuordnungen ablehnt, entspricht der Situation, sich in Russland nicht direkten Fraktionen zuordnen zu wollen.

"Psychedelische Erfahrungen kann man mit einer Menge Arten von Musik erlangen, wenn man sich entsprechend drauf fühlt, letztlich auch bei klassischer Musik. Deshalb ist es eine Frage, ob wir nun unbedingt eine typische psychedelische Band wären. Wir spielen auch keine folkloristischen Melodien, sondern unsere Vorstellungen darüber, wie es in einer bestimmten geografischen Richtung klingen dürfte. Zwei von uns haben an einer archäologischen Expedition in Südsibirien teilgenommen, in Tuva. Wir waren vom dortigen Kehlkopfgesang sehr beeindruckt, doch er ist so schwer zu lernen, dass wir ihn nicht versuchen zu imitieren. Wir haben uns vielmehr auf allgemeine Weise von der dortigen Lebensweise beeinflussen lassen. Es gibt dort eine schamanistische Tradition, manche Siedlungen haben nur einmal im Jahr Kontakt mit der Außenwelt. Dies alles wirkt auf unsere Musik ein. Es hat zu einer mehr spirituellen Einstellung bei uns geführt. Man kann mittels Trance einen meditativen Zustand erreichen; spezielle Rhythmen und Sounds der Musik sind dem sehr dienlich. Ob wir über die Auswahl unserer Instrumente dadurch in eine bestimmte stilistische Richtung geraten, ist unwichtig."

Nicht von ungefähr kooperierte Mari Boine mit einer weiteren russischen Band Anfang der 90er Jahre, die eine ähnliche Melange aufweist, den Farlanders. Bei dieser Moskauer Gruppe entwickeln sich sehnsüchtige, melodiöse Balladen manchmal zu stürmischen Improvisationen mit der Power und dem Sound einer Fusionband, wozu insbesondere das jazzige Schlagzeugspiel sowie der weiche Fretless Bass beitragen. Die Intonation der Sängerin Inna Zhelannaya erinnert an die slawischen Frauenchöre und das folkloristische Element wird z. B. auch durch simultan gespielte Naturhörner, einen bulgarischen Dudelsack oder einer tänzelnde Rhythmik geprägt, die der irischen Volksmusik nicht unähnlich ist. Aufgelockert werden die Arrangements durch meditative Passagen mit schwebenden Keyboardsounds sowie einen Touch Klezmer durch Klarinettenspiel. Auch bei dieser Band setzt sich der Eindruck fort, dass osteuropäische Gruppen mit eigenständigem Image aus den verschiedensten Stilrichtungen zusammen kamen. Inna Zhelannaya ist die ehemalige Sängerin von Allians (Allianz), einer bekannten Moskauer Rockband. Sergei Starostin aus der weiteren Besetzung kennt man dagegen durch zahlreiche Auftritte mit der bekannten Jazzformation Moscow Art Trio. Zudem wurde er in Russland durch seine Radio- und besonders TV-Arbeit bekannt wurde: in Hunderten von Sendungen stellte er die Volksmusiken des riesigen Landes vor. Perkussionist Sashsa Cheparukhin wiederum ist auch Manager von Huun-Huur-Tu und Gitarrist Igor Zhuravlyov spielte die Rockgitarre bei Allians. Mari Boine mit Band und die sich überschneidenden Mitglieder von Allians und den Farlanders spielen zusammen auf der schon 1992 aufgenommenen CD Winter in Moscow. Auf dem letzten, in Deutschland aufgenommenen Live-Album Moments zeigen die Farlanders nicht nur, dass sie auf jedem Festival Headlinerqualitäten besäßen, sondern führen auch der westeuropäischen Musikkultur vor, dass eine Musik, die in der eigenen Kultur verwurzelt ist, innovativ und universell klingen kann.

Auswahl-Diskografie

Zwischen Rock und Folk
Auktyon, Ptiza, Most Records
Aquarium, Territory, Rubel Records
Leningrad,Pulje, O.G.I. Records
Aktus, No one comprehends, Koka (MC)
Leonid Soybelman, Juliki, Cave 12 Disques
The Farlanders (alle Jaro)
- The Farlander
- Moments
- unter: Mari Boine / Inna Zhelannaya / Sergey Starostin, Winter in Moscow

Grenzüberschreiter
Sojus Kommertschetskogo Awantgarda, Official Bootleg N 15,
Sergey Kuryokhin, Sparrow Oratorium, Manchester (MC)
Sergey Kuryokhin, Just Opera
Khvost I Auktyon, Tscheini Vinar, Merion (MC)
Ne Zhdali:
- Rhinoceroses and other forms of life, Semaphore
- Whatever happens, Twist!, Rec rec
Ole Lukkoye
- Crystal Crow Bar, Klangbad
- Doo-Doo-Doo, Klangbad
- Toomze, Lollipop Shop

Elektroszene
Novi Kompositori, Astra (MC)
V.A., Elektrus, What's so funny about / Most Records
V.A., Tell Tschaikowsky the News, Exotica

Bezugsquellen

Most Records
Christoph Karsten, PF 630 436, 22314 Hamburg, Tel 040 - 50 26 23
www.mostrec.de, E-mail: mostrec@aol.com
Im Verbund mit "DK" (Dom Kultury), Torstr. 60, 10119 Berlin, russischer
Musikladen und Club
www.dk-berlin.org


No Man's Land,
Gerhard Busse, Strassmannstr. 33, 10249 Berlin, Tel 030 - 429 1857
www.nomansland-records.de, E-Mail: NoMansLand@t-online.de

The Lollipop Shop
Henning Küpper, Friedrich-Ebert-Str. 103, 42549 Velbert, Tel 030 - 44 73 06 79
www.lollipopshop.de, E-mail henning@lollipopshop.de:

Tamizdat
www.tamizdat.org